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LEGENDEN Gelassen in den Tod

Am 31. Juli 1944 verschwand der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry, Autor des »Kleinen Prinzen«, bei einem Aufklärungsflug über dem Mittelmeer. Hat ein deutscher Kampfpilot ihn abgeschossen? Noch ist das Rätsel nicht endgültig gelöst, der Mythos bleibt.
Von Georg Bönisch und Romain Leick
aus DER SPIEGEL 13/2008

Der Riese mit den traurigen Augen und dem schütteren Haar ist eine weltbekannte Heldenfigur, seit er von einem Aufklärungsflug über Südfrankreich am 31. Juli 1944 nicht zurückkam.

Antoine de Saint-Exupéry, bei seinem Tod 44 Jahre alt, Pilot, Schriftsteller und Abenteurer, ist vor allem als Autor des »Kleinen Prinzen« in Erinnerung geblieben - 80 Millionen verkaufte Exemplare, 160 Übersetzungen, davon eine der letzten in die südafrikanische Sprache Xhosa.

Noch heute setzt der Pariser Verlag Gallimard jährlich 350 000 Stück der Erzählung ab, die sich wie das philosophische Testament eines von Todesahnungen geplagten Mannes liest. »Der kleine Prinz« gehört zu den am meisten gedruckten Büchern nach der Bibel. An den Autorenrechten verdienen die Erben - der Schriftsteller selbst blieb kinderlos - noch immer schätzungsweise über eine Million Euro im Jahr. Die Familie, so ein Sprecher des Verlags, nehme ungern Stellung, sie sei »sehr empfindlich«.

Auch jetzt, da das letzte Geheimnis um den fliegenden Dichter sich aufzuklären scheint - oder doch nicht? -, übt sie sich in Zurückhaltung.

Saint-Exupéry jedenfalls rechnete mit seinem baldigen Tod, schwermütig und fatalistisch. »Ich widme mich, so intensiv es nur irgend geht, meinem Kriegsdienst«, schrieb er kurz vor seinem Verschwinden. »Sicherlich bin ich der älteste Kampfflieger der Welt ... Sollte ich abgeschossen werden, werde ich nicht das geringste Bedauern empfinden. Mir graut vor dem Termitenhaufen der Zukunft.«

Am Montag, dem 31. Juli 1944, 8.45 Uhr, startete der Kriegsfreiwillige Antoine de Saint-Exupéry auf dem korsischen Flughafen Borgo mit einer amerikanischen P-38 Lightning zu einem Erkundungsflug über das französische Alpengebiet um Grenoble und Annecy. Die Landung der Alliierten in der Provence, nach der in der Normandie, stand unmittelbar bevor.

Bei der zweimotorigen Maschine handelte es sich nicht um die Jagdversion, sondern um einen unbewaffneten Aufklärer F-5B. Die Bordkanonen waren durch Kameras ersetzt. Saint-Exupéry, allein im engen Cockpit, konnte sich nicht verteidigen, er musste sich auf die Schnelligkeit und das außerordentliche Steigvermögen der Lightning verlassen, die kartografische Aufnahmen aus 10 000 Meter Höhe machen sollte.

In der Nacht zuvor hatte Saint-Exupéry kaum geschlafen. Er speiste im Restaurant Sablette in Miomo und amüsierte die Kameraden mit Karten- und Taschenspielertricks. Dann zog er durch die Soldatenbars von Bastia und trat sehr früh am Morgen zum Dienst an. Frühstück mit Leutnant Briaud, der neben seinem Vorgesetzten, Hauptmann René Gavoille, der Letzte sein sollte, der mit ihm sprach. Nach Zeugnis des jungen Offiziers war er in Form und glücklich, endlich aufzubrechen.

In Wirklichkeit fühlte sich Saint-Exupéry als Wrack. Sein Körper schmerzte überall. Er stieg ins Cockpit wie in einen Sarg.

Seinen wahren Zustand, den er beim Militär verheimlichte, hatte er seiner Frau Consuelo in einem erschütternden Brief gestanden: »Ich habe eine Menge Unfälle erlitten. Nicht einmal mit dem Fallschirm

kann ich mehr abspringen. An zwei von drei Tagen bockt meine Leber, jeden zweiten Tag fühle ich mich seekrank. In einem Ohr rauscht es Tag und Nacht.«

Und dann fuhr er fort - das pathetische private Dokument eines Mannes, der schon lange hochberühmt war, aber sich dem Ende nahe spürte: »Ich fühle mich so unendlich müde. Und dennoch ziehe ich los, ich, der ich die besten Gründe hätte, zu Hause zu bleiben, der ich zehn Gründe vorweisen könnte, um vom Kriegsdienst freigestellt zu werden, der ich bereits meinen Krieg hinter mir habe, und nicht den leichtesten. Ich ziehe los. Ich habe die nötigen Zusagen erhalten. Ich ziehe in den Krieg. Ich kann es nicht ertragen, fern von denen zu sein, die Hunger leiden. Ich kenne nur ein Mittel, um mit meinem Gewissen Frieden zu machen, und das heißt leiden, so viel es geht. So viel Leid wie möglich erfahren.«

Ein Krieger, ein Kämpfer, oder ein Suizidgefährdeter?

Man muss diesen Brief an die verzweifelte Frau, die im New Yorker Exil zurückgeblieben war, bis zum bitteren Ende lesen. »So viel Leid ... das wird mir großzügig vergönnt sein, mir, der ich bei meiner körperlichen Verfassung kein zwei Kilo schweres Paket tragen, nicht aus dem Bett aufstehen oder ein Taschentuch vom Boden aufheben kann, ohne Schmerzen zu empfinden. Ich ziehe nicht los, um zu sterben. Ich ziehe los, um zu leiden und so den Meinen nah zu sein. Nicht dass ich mir wünschte, dabei umzukommen, doch ich bin sehr gerne bereit, auf diese Weise in den ewigen Schlaf zu sinken.«

Und so kam es. Der 31. Juli 1944 war ein klarer Tag, es gab beim Start keine Probleme mit dem Wetter. Um 10.30 Uhr verlor die Bodenstation den Kontakt, Saint-Exupéry meldete sich nicht mehr. Seine Rückkehr war zwischen 12.35 und 13 Uhr vorgesehen. Danach würde der Treibstoff der Lightning nicht mehr reichen. Um 14.30 Uhr wird er als vermisst gemeldet. Die US-Leitstelle in Korsika verzeichnet Antoine de Saint-Exupéry als »presumed lost«.

Consuelo in New York bekommt keine Nachricht mehr von ihm. Sie ahnt Schlimmes. Trotzdem fährt sie unermüdlich fort, Briefe zu schreiben, die sie aber nicht abschickt, mit denen sie sich selbst zu beruhigen versucht. »Du sollst wissen, dass ich mein Leben lang auf dich warte, auch wenn ich darüber alt werde und mein Gedächtnis verliere«, notiert sie.

In Wirklichkeit hätte Saint-Exupéry an jenem Tag niemals aufsteigen dürfen. Er hatte die Altersgrenze für Militärpiloten längst überschritten. Er war zu dick geworden für das enge Cockpit der Lightning. Bei früheren Abstürzen hatte er sich einen Wirbel gebrochen.

Trotzdem genehmigte man ihm Anfang 1944 die Rückkehr zur Staffel 2/33, die zu der Zeit in Alghero auf Sardinien stationiert war. Offiziell erhielt er die Erlaubnis für fünf Flüge - er machte zehn daraus. Technische Schwierigkeiten häuften sich. Mal geriet ein Motor in Brand, mal zwang ihn eine andere Panne, im Tiefflug zum Stützpunkt zurückzukehren. Die Lightning war anfällig. »Diese Gefilde, die 10 000 Meter, dieses unbewohnbare Land«, schrieb Saint-Exupéry, »wo einem 25 verschiedene Pannen drohen, ein Versagen des Atemgeräts zum Beispiel, das einem den Garaus machen kann, oder die Heizung, so dass man sich in einen Eisblock verwandelt.«

Trotzdem erfüllten die Flüge ihn mit Begeisterung. Allerdings, der Ton in den Briefen an Consuelo wurde immer mystischer und spiritueller. »Langsam, gelassen nähert er sich seinem Tod«, hielt sein Biograf Alain Vircondelet fest.

Ganz im Stil Blaise Pascals - Saint-Exupéry liest damals viel in den »Gedanken« des französischen Philosophen - sagt er, dass man »nur dahin geht, wo man Gewicht hat«. Nie habe er die Worte Jesu, er trage die Sünden der Welt, besser verstanden als beim Fliegen. Allein in seinem Cockpit meint er die schmerzliche Last des Krieges zu schultern.

Aber was geschah an jenem 31. Juli 1944 gegen Mittag wirklich? Ein technischer Defekt, wie ihn Saint-Exupéry schon so oft erlebt hatte? Ein absichtlich herbeigeführter Absturz des schwer depressiven Piloten, der wie ein Ertrinkender an seine Frau schrieb: »Liebste kleine Consuelo, meine kleine gefiederte Ratte, meine Pimpernelle, meine kleine, ein wenig verrückte Frau, meine Liebste, wie geht es Dir? Du fehlst mir. Du fehlst mir wirklich, zutiefst, wie eine frische Quelle. Gott weiß, wie unerträglich und heftig und ungerecht Du bist, aber hinter alldem steht ein kleines, ruhiges Licht, eine so liebevolle Zärtlichkeit, eine Ehefrau. Liebste kleine Consuelo, Du bist meine Frau fürs Leben, bis zum letzten Atemzug.«

Schreibt so ein Selbstmörder? Aber warum beschwört er immer den Tod?

Oder hatten ihn einfach, banales Kriegsgeschehen, die Deutschen vom Himmel geholt?

Ausgerechnet diese simpelste Erklärung schien lange die unwahrscheinlichste. Denn die deutschen Dienststellen hatten für den fraglichen Tag keinen Abschuss einer Lightning gemeldet, und ihre Aufzeichnungen, so der französische Militärexperte

und Lokalhistoriker Philippe Castellano, waren zu diesem Zeitpunkt, 15 Tage vor der Landung der Alliierten in Südfrankreich, noch ziemlich exakt.

Der mysteriöse Tod machte den Autor des »Kleinen Prinzen« zu einem tragischen Helden und zu einem Mythos. In Frankreich hat jedes Schulkind das Buch gelesen. Eine Gedenkplatte im Pariser Panthéon erinnert an den Flieger. Die wunderbare Poesie seiner Erzählung vergisst man ein Leben lang nicht. Saint-Exupéry ist so verschwunden wie sein kleiner Prinz: »Es wird aussehen, als wäre ich tot, und das wird nicht wahr sein ...«

Frankreich wollte Aufschluss über seinen Helden, mort pour la France. Jahrzehntelang suchte man nach den Trümmern der P-38 Lightning in Savoyen, auf den Hochplateaus des Vercors, in der Engelsbucht vor Nizza, zwischen Korsika und dem Kontinent.

Dann fand man völlig überraschend einen sensationellen Hinweis. Am 7. September 1998 holte der Fischer Jean-Claude Bianco vor der Küste von Marseille ein völlig verkrustetes silbernes Armband mit seinem Netz aus dem Wasser. Darauf eingraviert waren der Name Antoine de Saint-Exupéry und der seiner Frau Consuelo. Das Armband wurde der Familie des Schriftstellers übergeben, Gutachter überprüften die Echtheit, Consuelo hatte es in den USA anfertigen lassen.

Im Frühjahr 2000 entdeckte der Taucher Luc Vanrell im selben Meeresgebiet, 85 Meter tief, Trümmer einer P-38 Lightning mit den spezifischen Merkmalen der Serie J. Das linke Fahrwerk, das gekrümmte Ansaugrohr des Turboladers, ein Stück vom Rumpf und vom rechten Heckflügel, insgesamt etwa 20 Prozent der Maschine, ließen eine nahezu einwandfreie Identifizierung des Flugzeugtyps zu. Überreste einer Leiche gab es nicht, kein Wunder, nach so langer Zeit.

Allerdings: In den Jahren 1943 und 1944 stürzten vierzig P-38 Lightnings in Südfrankreich ab. Zwölf davon fielen ins Meer. Und von diesen gehörten vier zum fraglichen Typ J. Drei der Crashs sind gut dokumentiert - die der US-Piloten Meredith, Maloney und Cole, abgestürzt am 30. Juli, am 14. und am 15. August 1944. Aber deren Flugzeuge lagen weit von der neuen Fundstelle entfernt. Blieb also nur Saint-Exupéry übrig.

Die französischen Behörden haben die Authentizität der Wrackteile bestätigt, die Trümmer befinden sich inzwischen im Luft- und Raumfahrtmuseum von Bourget bei Paris.

Nur die Ursache des Absturzes blieb eben unklar. Dem Taucher Vanrell ließ sein Fund keine Ruhe. Zusammen mit dem Journalisten Jacques Pradel vom Radiosender Europe 1 forschte er weiter und glaubt jetzt, das »letzte Geheimnis« lüften zu können*. Die Ergebnisse ihrer Recherchen stellen die beiden am Osterwochenende im Museum von Bourget vor.

Danach soll der deutsche Obergefreite Horst Rippert, heute 85, mit seiner Messerschmitt Bf 109F-2 Saint-Exupéry abgeschossen haben. Rippert hatte zwar bis dahin nie etwas von dieser Heldentat erzählt. Aber nun bestätigte er: »Ich war Jagdflieger und hatte den Auftrag, einen Aufklärungsflug im Gebiet über Toulon zu machen. Da habe ich dann ein Flugzeug gesehen und an der Kokarde erkannt, dass es feindlich war. Ich habe es verfolgt und abgeschossen.«

Den französischen Autoren vertraute er noch mehr an: Das Flugzeug sei sehr merkwürdig geflogen, immer nach unten tauchend, hin und her, in großen Kreisen. Ein Flug, der ihm amateurhaft vorgekommen sei, in zögerlichem Stil, in 2000 Meter Höhe ... wo doch diese Lightning normalerweise in 10 000 Meter Höhe flog ... Da habe er sich gesagt: Mein Lieber, wenn du nicht abhaust, knalle ich dich ab. Er sei runtergegangen und habe geschossen, nicht auf die Triebwerke, sondern die Flügel. Er habe getroffen. Die Kiste schmierte ab. Direkt ins Wasser. Auf dem Meer zerschellte sie. Keiner war abgesprungen.

Rippert, Bruder des Sängers Ivan Rebroff und lange Sportreporter beim ZDF, gehörte dem Jagdgeschwader 200 an, das erst im Juni 1944 aufgestellt worden war.

Aus Privatbesitz gibt es eine Karteikarte, die offenbar später für ihn nach seinen Angaben angefertigt wurde. Bis zum 7. August verzeichnet sie neun Abschüsse - aber keinen am 31. Juli.

Dem Obergefreiten wurde bisher offiziell nur ein Abschuss südwestlich von Marseille am 24. Juli um 12 Uhr zugerechnet - eine »Liberator«; alle anderen verzeichneten Meldungen kommen noch weniger in Frage.

Aber diese, die Vanrell und Pradel in ihrem Buch auflisten: die des Hauptmanns Hermann Korth am Luftwaffenstützpunkt von Malcesine am Gardasee in Italien. Korth kriegt offenbar am 31. Juli 1944 spätabends einen Anruf seines Kollegen, des Hauptmanns Kant, aus Istres in Südfrankreich, der Codename der Basis lautet »Tribun«, Und er vermerkt: »Anr. Trib. K. Abschuss 1 Aufkl. Brennend über See.«

Kameraden, die Rippert gut kennen und ihm wohlgesinnt sind, wundern sich über dessen wiedergefundenes Erinnerungsvermögen - vor allem deshalb, weil sie in der Vergangenheit auch über den ungeklärten Fall Saint-Exupéry mit ihm diskutierten. »Kein Wort« habe er dazu gesagt, »Gelegenheit gab es genug.« Einer sagt, als er die Nachrichten jetzt hörte: »Wir haben lauthals gelacht.« Ein anderer: »Ich weiß nicht, was den Horst reitet. Eigentlich ist es zum Haareraufen.«

Am 31. Juli 1944, so viel scheint rekonstruierbar zu sein, meldete die westlich von Lyon gelegene deutsche Radarstation »Falter« einen alliierten Einzelflug, worauf das Jagdgeschwader 200 alarmiert wurde. Aber »Abschussberichte dieser Einheit sind ... nicht mehr vorhanden«.

Rätsel gelöst? Vielleicht, es ist auch unerheblich. Der Mythos Saint-Exupéry wird bleiben. Es gibt kein Grab, an dem man um den Schöpfer des »Kleinen Prinzen« trauern könnte. Nur die Witwe Consuelo, die 1979 starb, ruht auf dem Père-Lachaise-Friedhof in Paris.

»Schreiben Sie mir, schreiben Sie mir ab und zu«, flehte Saint-Exupéry die in New York zurückgebliebene Ehefrau zu seinem 44. Geburtstag an, wenige Wochen vor seinem Absturz über dem Mittelmeer. »Ihr Brief bringt Frühling in mein Herz.«

Er war eben nicht der ruhige, starke Held, sondern ein emotional schwankender, von Ängsten erfüllter Mensch, der sich sein Leben lang selbst suchte und nicht finden konnte. Wie er starb, bleibt letztlich immer noch unklar. Consuelo spürte instinktiv, was mit ihrem »Tonio« passiert war: »Sie wollten sich läutern, Sie wollten sich in diesem Fluss aus Kugeln und Maschinengewehrfeuer reinwaschen.«

Und das ist ja gelungen.

GEORG BÖNISCH, ROMAIN LEICK

* Jacques Pradel / Luc Vanrell: »Saint-Exupéry. L'ultimesecret«. Editions du Rocher, Monaco; 192 Seiten; 19,90 Euro.

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